Durch das wilde Kohistan

(Frankfurter Allgemeine Zeitung)

 

Matthias Sommer: Durch das wilde KohistanAls der ungarisch-britische Forscher Sir Aurel Stein Kohistan bereiste, war er auf der Suche nach Spuren, die Alexander der Große auf seinem Feldzug an den Indus hinterlassen hatte. Was Stein fand, waren "gesetzlose kohistanische Gemeinden". Ein Leben zähle hier wenig, notierte er trocken in seinem Buch "On Alexander's Track to the Indus". Aber, fügte er mit leisem britischem Humor hinzu, dafür werde man nach seinem Tod auch ganz einfach zum Märtyrer.

Stein bereiste Kohistan in den späten zwanziger Jahren – als erster Europäer der Neuzeit, wie er nicht müde wird zu betonen. Mühsam bewegte er sich zu Fuß auf ausgetretenen Eselspfaden durchs Gelände. Heute führt der Karakorum Highway (KKH) durch Kohistan, eine Bergstraße der Superlative, ein Vorzeigeobjekt der beiden Staaten China und Pakistan: Zwanzig Jahren haben 15000 Pakistani und 9 bis 20000 Chinesen die Bergwelt des Karakorum zwischen dem Indus-Tiefland im Süden und dem Tarim-Becken im Norden umgegraben. Von den 60er Jahren bis zur Fertigstellung 1986 haben sie im Zeichen der chinesisch-pakistanischen Annäherung und für die Ehre des jeweiligen Vaterlandes geschuftet. Haben Felsen gesprengt und Brücken gebaut – und dabei massenhaft Leben geopfert: Alleine auf pakistanischer Seite sollen beim Bau der Straße 400 bis 500 Arbeiter ums Leben gekommen sein. Alle eineinhalb Kilometer einer.

Den Regierungen von China und Pakistan war das Projekt dies Menschen-Opfer wert. Sie können sich nun rühmen, ein Gebiet erschlossen zu haben, das lange Zeit für Außenstehende nicht zu erreichen war – von so seltenen Ausnahmen wie Aurel Stein einmal abgesehen. Sie können damit glänzen, eine Verkehrsader geschaffen zu haben, die es auch dem infrastrukturell verwöhnten westlichen Touristen ermöglicht, Kohistan zu besuchen. Was allerdings an der Wirklichkeit des Landes nichts ändert. Die sieht, nüchtern betrachtet, so aus: Fremde sind in Kohistan nach wie vor selten. Und wenn es welche gibt, dann sind sie fast ausschließlich auf der Durchreise ins nördlich gelegene Hunzaland.

Kohistan selbst ist heute wie einst ein weitgehend unbekannter Landstrich. Literatur über diese Region im Norden Pakistans ist äußerst dünn gesät, deutschsprachige gibt es so gut wie gar nicht. Aber auch derjenige, der sich die Mühe macht, sich durch fremdsprachige – meist englische – Bücher zu kämpfen, erhält zumeist wenig mehr als einen allgemeinen Überblick über Land und Leute. Selten enthalten sie verlässliche Details.
Schon bei der Frage "Wo genau liegt Kohistan, wo sind seine Grenzen?", scheiden sich die Geister der Autoren. Für die einen ist Kohistan das ganze Gebiet zwischen Gilgit im Norden und den Gebieten um Islamabad im Süden, zwischen dem Fluss Swat im Westen und dem Indus im Osten – unterteilt in Swat-Kohistan und Indus-Kohistan. Für die anderen, die weniger mit historischem als administrativ-politischem Blick die Dinge betrachten, ist Kohistan kleiner. Sie verstehen unter Kohistan lediglich den heutigen Regierungs-Distrikt, der sich zwischen Besham und Shatial zu beiden Seiten des Indus erstreckt, dieses geschichtsträchtigen Stromes, der von seiner Quelle bis zu seiner Mündung in das arabische Meer 3200 Kilometer zurücklegt.

Dort, wo er durch Kohistan fließt, begleitet ihn jetzt der Karakorum Highway, dessen graues Band sich unweit des grünen Flusses entlang schlängelt. Es ist ohne Frage ein erhabener Anblick. Doch ihn genießen nur wenige. Denn wer bis hierher vordringen will, darf sich nicht davon abschrecken lassen, dass es im ganzen Gebiet nur wenige Schlafgelegenheiten gibt, die diesen Namen auch verdienen – mit Betten, die nicht so verwanzt sind, dass man besser gleich die Nacht zum Tag macht und wach bleibt. Er darf auch nicht gut essen wollen und muss ohne Alkohol auskommen, den es im ganzen muslimischen Kohistan nicht gibt. Und nach wie vor muss man eine ordentliche Portion Abenteuerlust mitbringen, denn dank des Karakorum Highway kommen zwar Lastwagen voll fremder Güter – Radios, Taschenlampen jede Menge Schnickschnack und Bau-Material für neue, stabilere Häuser – hier an, aber Recht und Ordnung konnten bislang nicht importiert werden. So ist Aurel Steins in den zwanziger Jahren getroffene Feststellung von den "gesetzlosen kohistanischen Gemeinden" auch heute nicht übertrieben. (...) Unter der Überschrift "Gefahren und Ärgernisse" ist zum Beispiel im Lonely-Planet-Führer "Karakoram Highway" zu lesen: "Es gibt nachts ab und zu Raubüberfälle auf dem Highway in Indus-Kohistan". Man solle tunlichst nicht die Straße verlassen, ohne dies der Polizei zu melden, heißt es an anderer Stelle. Und viele Reisende würden in Kohistan "bad vibes" verspüren – wie etwa eine deutsche Touristin, die von ihrer Unterkunft an der Straße zum Indus hinabstieg. "Are you muslim, memsahib?" hatten sie die Kinder gefragt, die immer zur Stelle sind, wenn Fremde auftauchen. "No, I am Christian" antwortete sie gedankenverloren. Dann flogen die ersten Steine.

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Kohistan ist ein Schmelztiegel der Völker und Kulturen: Die meisten Bewohner berufen sich auf die Abstammung von den Shins, die vor mehr als 1000 Jahren aus dem unteren Indus-Tal nach Norden gezogen waren. Als eine zweite Wurzel der Kohistaner gelten die Pathanen, deren Hauptsiedlungsgebiet an der pakistanisch-afghanischen Grenze liegt. Die Pathanen dehnten im 15. Jahrhundert ihr Herrschaftsgebiet auf das untere Swat-Tal aus und drangen von dort im 17. und 18. Jahrhundert nach Kohistan ein. Außer Shins und Pathanen gibt es zahlreiche andere ethnische Einflüsse, die sich heute noch vor allem in der Sprache bemerkbar machen: Kohistani ist eine Mischung aus Shina, Pashto und Urdu. Sogar das Arabische hat seine Spuren hinterlassen.

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Oft genug wird aus dem Schmelztiegel Kohistan ein Hexenkessel. Blutige Fehden zwischen einzelnen Stämmen waren bis in die jüngste Vergangenheit an der Tagesordnung, und gelegentlich bricht immer noch Gewalt aus. Steinerne Wachtürme und zur Festung ausgebaute Wohnhäuser künden von den Feindseligkeiten zwischen einzelnen Sippen. Und die üppige Bewaffnung, mit der sich Kohistaner in der Öffentlichkeit zeigen, lässt keinen Zweifel daran, dass hier die Ehre noch mit der Waffe verteidigt und Blutrache praktiziert wird. Daran ändern auch die fensterlosen Forts nichts, die vereinzelt am Rande des Highways auftauchen und sich bei näherem Hinsehen als Polizeistationen entpuppen, denn in den Seitentälern, diesem uralten Rückzugsgebiet für Gesetzlose aus aller Herren Länder, endet der Einfluss der Ordnungsmacht. Jene, die hier Dienst tun – zumeist keine Einheimischen –, wissen das. Sie überlassen das Land seinem eigenen Schicksal. Und dieses ist rau wie die Landschaft, mit der es untrennbar verwoben scheint. Abgesehen von der Gegend um Mingora, dem Zentrum von Swat-Kohistan, mit dem hier noch lieblichen, weitläufigen Swat-Tal, gibt es nur Schluchten, die schon den chinesischen Pilgerer Fa-hsien erschaudern ließen, der doch immerhin bereits die Wüste Tarim und die Schneeberge von Pamir bezwungen hatte, als er um das Jahr 400 hierher kam. Die Berge seien hier wie eine Wand aus Stein, die vom Indus aus 10000 Fuß in den Himmel emporsteigt, heißt es in seinem Reisebericht.

Tatsächlich sind die Schluchten so schmal, dass die Sonnenstrahlen nur wenige Stunden am Tag bis in den Talgrund dringen, und der Boden ist so karg, dass hier nur kleinste Terrassen bewirtschaftet werden können, sofern sie nicht, wie 1974, durch Erdbeben zerstört werden, als vor allem in Pattan ganze Felswände zu Tal stürzten und Dörfer und Tausende von Menschen mit in die Tiefe rissen. Die Weidegründe für das Vieh liegen in Höhen von mehreren Tausend Metern über dem Fluss und so verstreut, dass die Hirten oft monatelang so gut wie keinem anderen Menschen begegnen. Dies mag ein Grund für die gering ausgeprägte Kontaktfreude der Kohistaner sein. Überschwängliche Herzlichkeit gegenüber Fremden, wie man sie in Pakistan sonst reichlich findet, ist hier eine Seltenheit.

Die spürbare Zurückhaltung der Bevölkerung ist sicherlich auch auf das negative, mehr auf Mythen als auf Fakten gegründete Bild zurückzuführen, das viele Kohistaner vom Westen haben, bestimmt durch einen selbst für pakistanische Verhältnisse sehr niedrigen Bildungsstand. Nicht ohne Häme wird kolportiert, dass noch in den sechziger Jahren, als der Vorläufer des Karakorum Highway in den Fels getrieben wurde, die Einheimischen den Ingenieuren Heu als Futter für deren Geländewagen angeboten hätten. Inzwischen wurden Schulen gebaut – eine für jedes Dorf , nach dem Wunsch der Regierung in Islamabad –, doch nur zu oft wird der solide Bau alternativ als komfortable Residenz des Dorfältesten genutzt.

Doch selbst wenn die Dorf-Schule nicht als Wohnung eingerichtet ist, heißt das nicht zwangsläufig, dass dort tatsächlich unterrichtet wird. Vertreter von Entwicklungshilfe-Projekten beklagen, dass nicht wenige Lehrer als Angestellte des Staates ihr monatliches Gehalt kassieren ohne auch nur eine Stunde Unterricht gehalten zu haben, und dass sie für Schulbücher, die sie gratis verteilen sollen, Geld verlangen. Geld für Schulbücher auszugeben aber ist ein Luxus, den sich kaum eine Familie hier leistet beziehungsweise leisten kann, schon gar nicht, wenn das Buch für ein Mädchen wäre, das nach landläufiger Auslegung in einer Schule sowieso nichts verloren hat.

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Wie seit Urzeiten wird die Existenz der Kohistaner von einer kargen Natur bestimmt, die sich widerspenstig der leichten Erkundung entgegenstellt, zugleich aber einen besonderen Reiz ausübt. Nicht nur, dass man hier ein Gefühl des Fremdseins erlebt, wie es auf dieser Erde kaum noch möglich ist, sondern immer wieder bieten sich Landschaftsbilder von einer Dramatik, die kaum übertroffen werden kann.

Vor diesem Hintergrund beginnt man bald, die Menschen zu bewundern, denen keine Felswand zu steil und abweisend ist, um ihr einen Unterschlupf für die Familie abzuringen, und die keinen Aufwand scheuen, ein winziges Fleckchen grauen Sands in eine grüne Oase verwandeln Verständlich wird dann auch, dass die Kohistani mit dem Highway nicht viel anfangen können und dem Fremden, das über ihn zu ihnen vordringt, mit einer Mischung aus Skepsis und Feindseligkeit begegnen. Als Tourist muss man lernen, damit umzugehen, und vielleicht wäre es gut, es Fa-hsien und seinen pilgernden Zeitgenossen gleichzutun: Sie ritzten Zeichen in den Fels, durch die sie die Gunst der Götter für ihren Weg erbaten – wohl auch, weil sie wussten, dass Kohistan im Volksmund auch Yaghistan heißt – Land der Unregierbaren.